Mediale Aufmerksamkeit und ihre Tücken.


In seinem Schreiben, das Dr. Wolfgang Hesse in seinem zweiten Dienstjahr als Wolfsburger Oberstadtdirektor an die Redaktion der Aller Zeitung richtete, brauchte er nicht viele Worte, um sein Missfallen über die mediale Berichterstattung zum Ausdruck zu bringen. Genau genommen begnügte er sich mit exakt zwei Sätzen, die auch in ihrer Kürze zu zeigen vermögen, dass sich der Politiker durchaus subtil mit Worten zu wehren wusste. So fragte er einleitend, ob er denn die Aufmerksamkeit des adressierten Herrn Enke „auf einen Artikel Ihrer ‚Wolfsburger Allgemeinen‘ in der heutigen Ausgabe […] lenken“ dürfe – die in Gifhorn ansässige Zeitung hatte kurz nach ihrem Neustart auch die mit ihr verschwesterte Wolfsburger Allgemeine Zeitung aus der Taufe gehoben. Hesses auf den ersten Blick durchaus höflich formulierte Frage zeigt zunächst, wie schnell der Oberstadtdirektor reagierte, wenn er sich in falsches Licht gesetzt fühlte, verließ sein Schreiben doch noch am Tag der Veröffentlichung des Artikels sein Büro. Bei genauerer Betrachtung lässt sie jedoch bereits seinen Ärger anklingen, kann doch davon ausgegangen werden, dass sie eine allein rhetorische Frage war. Er glaube, so Hesse weiter, dass im beanstandeten Artikel „die Grenzen des guten Geschmackes weit überschritten sind“. Die abschließende Grußformel „Mit vorzüglicher Hochachtung!“ darf nach einer solchen schallenden verbalen Ohrfeige mit gutem Grund als beißende Ironie gelesen werden. In einem betreffenden Vermerk aus dem Hauptamt konkretisierte ein Mitarbeiter, er habe gegenüber der Zeitung nicht nur das Missfallen Hesses zum Ausdruck gebracht, sondern darüber hinaus auch dargelegt, dass „es der Oberstadtdirektor in Zukunft ablehne, dem Verfasser dieses entstellten und von einem schlechten Geschmack zeugenden Berichts Informationen über kommunalpolitische Vorgänge zu erteilen. Es sei bedauerlich, daß der Verlag einen solchen Bericht, der das Niveau der Zeitung gefährde, abgedruckt habe.“

Doch was genau störte Hesse an dem mit „Oberstadtdirektor als Fernsehstar“ überschriebenen Artikel derart, dass er am 19. Oktober 1954 seine Medienschelte, unsere Archivalie des Monats Oktober, in die Schreibmaschine tippen ließ? In jenen Herbsttagen war ein Fernsehteam des Nordwestdeutschen Rundfunks für mehrere Wochen in der Stadt, um für die zweite Folge der Sendereihe „Städtebilder“ ein Portrait über die Volkswagenstadt zu drehen. Sie sollte am 17. November unter dem Titel „Wolfsburg – Stadt und Werk“ zur besten Sendezeit ausgestrahlt werden, ging dann jedoch offenbar unter der markanteren Überschrift „Wolfsburg – Stadt ohne Tradition“ auf Sendung. Zuvor waren Vertreter beider Lokalzeitungen eingeladen, den Dreharbeiten beizuwohnen, sollten darüber allerdings in sich deutlich voneinander unterscheidender Art und Weise Bericht erstatten. So gewährten die Wolfsburger Nachrichten Einblicke in die gewählten Sujets und Themenfelder, die auf einen „Kontrast der Bilder“ abzielten. Dieser ergab sich aus dem in der jungen Stadt unerwartet anzutreffenden Alten – so das Schloß Wolfsburg samt umgebenden Park, der St. Annen Kirche und Fachwerkbauernhäusern – und den neugebauten, modern anmutenden Schulen und Kirchen, dem Schwimmbad und den neu entstehenden Stadtvierteln. Darüber ließen sie auch den verantwortlichen NWDR-Redakteur ausführlich zu Wort kommen: „Hier ist alles Anfang, und doch bereits so vollendet – Beispiel einer schaffensfrohen, fleißigen Gemeinschaft voll Pioniere und Idealisten von dem Willen beseelt, eine Stadt zu gestalten, in der das Leben lebenswert ist, mit einem echten Heimatgefühl für diese, ihre Stadt.“

Der Journalist der Wolfsburger Allgemeinen Zeitung hingegen wählte einen gänzlich anderen, durchaus reißerischen Zugang, der bereits in der Überschrift anklang und sich durch alle weiteren Textbausteine zog. So wurde Hesse in der Bildunterschrift als „Hauptdarsteller“ des Drehs vorgestellt, dem der Journalist aber wohlgemerkt durchaus wohlgesonnen und von dessen Auftritt angetan war, ist doch von „unserem Oberstadtdirektor“ die Rede. In der Einleitung stellt er diesen aber sodann in eine Reihe, in der sich Hesse wohl eher nicht sah: „Nicht Zarah Leander, nicht Grete Weiser und auch nicht Will[y] Fritsch stehen im Mittelpunkt des Filmstreifens“, sondern neben dem VW-Generaldirektor Heinrich Nordhoff eben auch Hesse und stellvertretend für viele der VW-Arbeiter Fritz Krause. Die Schwedin Leander, die im nationalsozialistischen Deutschland als Filmschauspielerin Karriere machte, aber auch Weiser, langjährige Bühnenschauspielerin, die insbesondere nach Kriegsende auch in Unterhaltungsfilmen reüssierte, oder Fritsch, der zu den beliebtesten Schauspielern Deutschlands zählte und an dessen Seite im Jahr zuvor Romy Schneider ihr Filmdebüt gegeben hatte, waren nicht nur ein ganz anderes Kaliber vor der Kamera, sondern eben auch professionelle, wirkliche Filmstars. Hesse dagegen hatte sich nach seinem Studium der Rechtswissenschaften, das er mit einer Promotion abschloss, ganz seiner Verwaltungslaufbahn verschrieben. Nachdem er bereits fünf Jahre in Bad Pyrmont als Stadtdirektor tätig gewesen war, hatte er 1953 in der Stadt am Mittellandkanal das Amt als Oberstadtdirektor angetreten – und als solcher wollte er augenscheinlich wahrgenommen werden.

Doch nicht was er inhaltlich zu sagen hatte – laut Artikel folgte er dabei sowieso ganz dem Drehbuch – fand in der Wolfsburger Allgemeinen Zeitung Beachtung, sondern wie er sich als Schauspieler präsentierte: „‚Achtung, Aufnahme!‘ Bedächtig nimmt unser Oberstadtdirektor eine Schippe zur Hand, tief gräbt sie sich, mitten auf dem Neubauplatz an der Porschestraße in einen großen Kieshaufen … ‚Halt!‘ schreit da der Kameramann, ‚Herr Doktor, bitte noch einmal, nicht ganz so schwungvoll.‘ Beim zweiten Male klappt es dann, die Szene sitzt.“ Es verwundert nicht, dass eine solche mediale Berichterstattung bei Hesse Sorge um seine Reputation auslöste. Schließlich fand der Journalist noch ein windschiefes Sprachbild für das, was ein Politiker im vom Stadtaufbau geprägten Wolfsburg der 1950er Jahre zu leisten hatte – und das nachvollziehbar macht, warum sich der Oberstadtdirektor derart auf den Schlips getreten fühlte: „Und ‚Prima!‘ sagt der Chefreporter zum Schluß zu unserem Hauptdarsteller. ‚Es hat gut geklappt, an Ihnen ist direkt ein Schauspieler verlorengegangen!‘ Dr. Hesse schmunzelt, die Umstehenden schmunzeln. Warum auch nicht Schauspieler? Der Oberstadtdirektor von einem Gemeinwesen wie Wolfsburg, der muß schon in allen Sätteln gerecht sein, wenn er sich durchsetzen und etwas schaffen will. Da muß man unter Umständen auch einmal schauspielen können.“

So offenbart diese kurze Episode aus der Anfangszeit der Tageszeitungen in Wolfsburg, dass sich das Miteinander von Vertretern von Politik und Verwaltung und Journalisten in der jungen Kommune erst einspielen musste. In diesem Falle klafften erwarteter Anspruch seitens der Kommune und journalistische Wirklichkeit weit auseinander. Diese kurze Episode verrät darüber hinaus, welch heftige Abwehrreaktionen missliebige Medienberichterstattung auslösen konnte.

Quelle/Text: Dr. Alexander Kraus, Projekt: Wolfsburg auf dem Weg zur Demokratie. Alle Rechte beim Institut für Zeitgeschichte und Stadtpräsentation (IZS).

Bildnachweis: oh/ StadtA WOB, HA 1431

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