Archivalie

Eine Bürger*innenbefragung im städtischen Obdachlosenasyl (1968)

Mag die Bundesrepublik Ende der 1960er Jahre auch längst in der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ (Helmut Schelsky) angekommen gewesen sein, bedeutete dies mitnichten ein Ende von Armut und sozialer Ungleichheit. Dies galt auch in der „Wirtschaftswunderstadt“ Wolfsburg, die 1958 ein Obdachlosenasyl für – wie es in einer anderen Akte heißt – „sozial Schwache“ und Arbeitslose in der Borsigstraße im Gewerbegebiet Ost hatte errichten lassen. Zehn Jahre später führte das Jugendamt eben da eine umfangreiche Bürger*innenbefragung durch, die tiefe Einblicke in das Leben jener mehr als 30 befragten Familien gewährt, die dort Quartier bezogen hatten. Geht auch der Anlass der Befragung nicht aus den Akten hervor, so ist zu vermuten, dass sie im Rahmen der Planungen für den Anfang der 1970er Jahre in Angriff genommenen Umbau der Gebäude zu einem Sozialtherapeutischen Zentrum stattfand. In diesem Zusammenhang sollte der Komplex unter anderem auch um eine Kinderspielstube erweitert werden. Einer der durch einen städtischen Angestellten ausgefüllten Fragebogen – unsere Archivalie des Monats November – wird im Folgenden stellvertretend für die Gruppe der Befragten eingehender analysiert. Er steht symbolisch für die deutschlandweit festzustellende ‚Entdeckung‘ der Randgruppen in den ausgehenden 1960er Jahren.


Auf dem ausgewählten Fragebogen wurde ein 34 Jahre alter Familienvater befragt, der damals mit seiner fünfköpfigen Familie zwei Räume in der Borsigstraße bewohnte

Gemeinsam mit seiner sechs Jahre jüngeren Frau hatte er drei Kinder – zwei Jungen (4½ und 7 Jahre) sowie eine 5½ Jahre alte Tochter. Da er, wie eine Ergänzung auf der Übersicht über die laufenden feststehenden monatlichen Ausgaben verrät, Unterhalt zahlte, ohne dass aus dem Bogen hervorgeht, für wen, war er möglicherweise in zweiter Ehe verheiratet oder zahlte für ein uneheliches Kind Alimente. Dass das Jugendamt der Initiator der Befragung war, wird in solchen Fragen deutlich, die sich speziell auf das Alltagsleben der Kinder bezogen. Wurden die beiden jüngeren Geschwister offenbar noch zuhause betreut, besuchte der Älteste einen Schulkindergarten, für den er eine weitere Strecke zu Fuß zurücklegen musste. Gleichwohl zahlreiche weitere Familien mit zwei bis fünf Kindern befragt wurden, gab der Vater an, seine Kinder hätten weder Freunde in der Nachbarschaft, die sie zum Spielen besuchen würden, noch solche, die außerhalb der Anlage wohnten. Auffällig ist dabei die Formulierung der betreffenden Fragen 6 und 7: „Haben Ihre Kinder Freunde in der Nachbarschaft (außerhalb des Lagers), die zum Spielen hierher (ins Lager) kommen?“ Die »Worte ›im Lager‹« sollten dabei, wie aus einer mitabgedruckten Anmerkung hervorgeht, explizit »nicht verlesen« werden, knüpften sie doch begrifflich an die Zeit des Nationalsozialismus an, waren offenkundig negativ konnotiert und klangen darüber hinaus zu sehr nach Verwahrung. Es verrät viel über den Verfasser des Fragebogens, über den in der Akte sonst nichts überliefert ist, dass dessen ungeachtet an der Formulierung schriftlich festgehalten wurde, obgleich mündlich auf sie verzichtet werden sollte.


Das Ehepaar kam aus eher einfachen Verhältnissen

Schon die Eltern des Vaters hatten zuvor zumindest temporär – genaueres lässt sich dem Fragebogen nicht entnehmen – keine eigene Wohnung bewohnt, womit das Jugendamt im Grunde nach Traditionslinien der Armut wie fehlender Sesshaftigkeit und Beständigkeit fragte. Hatte der Familienvater im Anschluss an den Besuch der Volksschule den Beruf des Glasbläsers erlernt, hatte seine Gattin nie eine Berufsausbildung begonnen. Während er zum Zeitpunkt der Befragung auf dem Bau arbeitete, wobei er krankheitsbedingt im letzten halben Jahr immer wieder einzelne Tage nicht auf der Arbeit habe erscheinen können – dass auch dies abgefragt wurde, verrät einmal mehr etwas über die Beobachterperspektive –, verdingte sie sich in einem nicht näher zu bestimmenden Arbeitsverhältnis als Küchenhilfe in einem Hotel. Sein Arbeitsverhältnis, das er wahrscheinlich als Hilfs-, un- oder angelernter Arbeiter eingegangen war, war allem Anschein nach ein prekäres: Wenigstens dreimal hatte er seit dem letzten Winter seine Arbeitsstelle wechseln müssen, einen Monat war er zudem arbeitslos gemeldet.
Zum Zeitpunkt der Befragung verdiente das Ehepaar gemeinsam etwa 800 DM netto, mit denen sie gerade so auszukommen schienen. Dies deutet jedenfalls die Übersicht über die monatlichen Fixausgaben an. Auf ihr sticht sogleich der ebenso überraschend wie nachdenklich machende hohe Posten ins Auge, der für die Verpflegung der Familie aufgebracht wurde – mit den 400 DM war schon die Hälfte des monatlichen Nettoeinkommens aufgebraucht. Ein Blick auf die weiteren überlieferten Fragebogen zeigt, dass sie diesbezüglich keine Ausnahme darstellte. Da neben den bereits aufgeführten Alimenten (104 DM) noch Abzahlungen von weiteren 100 DM zu Buche schlugen, die leider nicht weiter erläutert werden, aber auf eine mögliche Verschuldung hindeuten, blieben nach Abzug der aufgrund der Unterbringung relativ niedrigen Miete von 30 DM und weiterer Nebenkosten nicht viel mehr als 120 DM monatlich für alle übrigen anfallenden Kosten wie Kleidung et cetera. Während ein großer Teil der Wolfsburger Stadtbevölkerung an der Konsumgesellschaft partizipierte, kämpfte der hier befragte Bewohner der Schlichtwohnungen in der Borsigstraße gegen die Armut an.

Den Angaben des Familienvaters zufolge wohnte die Familie bereits mehr als zwei Jahre in der Obdachlosenunterkunft; alle Versuche, eine „richtige Wohnung“ zu beziehen, waren nicht von Erfolg gekrönt
Angesichts des geringen Einkommens und der möglichen existierenden Verschuldung (Frage 55) ist zu bezweifeln, dass sich daran angesichts der schwierigen Lage auf dem angespannten Wolfsburger Wohnungsmarkt so bald etwas ändern sollte. Welchen Anteil die Familie selbst an der immer wieder in den Antworten des Vaters sichtbar werdenden scheinbaren mangelnden Integration und der daraus resultierenden Ausgrenzungserfahrung trug, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden. Jedoch ist eine solche augenscheinlich: Die Frage, ob die befragte Familie mit einigen der hier lebenden Familien oder Personen besonders gut auskommen würden, wurde mit „nein, niemand“ beantwortet; mit keiner der benachbarten Personen schien der Mann in irgendeiner Form näher bekannt oder vertraut gewesen zu sein; für die existierenden Missstände interessierte er sich nach Selbstaussage nicht, auch wenn er beispielsweise „Diebstähle“, „Gerede und Klatsch“ als Probleme bestätigte. Abschließend befragt, inwiefern er glaube, „daß die Leute, die nicht hier wohnen, Sie schief ansehen“, da er in der offenbar stadtweit bekannten Borsigstraße am östlichen Stadtrand inmitten des Industriegebietes wohne, antwortete er mit „ja“. Seine Antwort auf die Nachfrage, wo ihm dies „besonders stark aufgefallen“ sei, verdeutlicht, wie tiefgreifend und allumfassend die Formen erfahrender Stigmatisierung wirken mussten: „Überall / Amt / Arbeit“. Letztlich verweist einmal mehr die angewandte Fragetechnik auf ein Dilemma: So ist nicht von der Hand zu weisen, dass auch in diesem Falle der städtische Mitarbeiter durchaus auf die sozialen Probleme am Rande der Stadt verweisen wollte; zugleich nutzte er für diese Beschreibungen eingefahrene, möglicherweise über Jahrzehnte eingeübte Abwertungsmechanismen hinsichtlich schlecht beleumundeter Viertel, deren periphere Wohnlage sich letztlich auf die ‚Randständigkeit‘ der Bewohner*innen übertrug und somit reproduzierte. Der analysierte Fragebogen ist dafür ein sprechendes Beispiel.

 

Text: oh/Dr. Alexander Kraus, Projekt: Wolfsburg auf dem Weg zur Demokratie.
 
Foto: oh/StadtA WOB, HA 1191, Bd. 1
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