
Archivalie des Monats Bernhard Gericke und die Frage danach, wer eigentlich seinerzeit in die neugegründete „Stadt des KdF-Wagens bei Fallersleben“ übersiedelte
„Können Sie aus Ihrer Erinnerung sagen, daß hier damals in dieser Stadt, die man doch so häufig als Nazi-Stadt bezeichnete, sehr viel parteipolitische Aktivität war, also viel Veranstaltungen, Umzüge und dergleichen gemacht wurden“, fragte der damalige Stadtarchivar Wolfsburgs, Bernhard Gericke, in einem erinnerungsgeschichtlichen Interview Berta Nientit, eine frühere Mitarbeiterin des städtischen Einwohnermeldeamtes. Diese musste verneinen: „Auf keinen Fall mehr als an anderen Orten. Gerade hier waren doch alle mit der harten Arbeit im Werk oder mit der ebenso anstrengenden Aufbauarbeit in der Stadt voll beschäftigt.“
Gericke hatte Nientit für das Interview – unsere Archivalie des Monats Juli –, das er am 3. Dezember 1969 mit ihr führte, ausgewählt, um sie über die Anfänge der Stadtverwaltung zu befragen. Der Stadtarchivar beteuerte Nientit gegenüber, die während des Zweiten Weltkrieges auch als Schreibkraft des örtlichen BdM sowie der NSDAP-Ortsgruppe Wellekamp-Nord tätig war, das auf Tonband aufgezeichnete Gespräch würde zwar im Stadtarchiv Aufnahme finden, aber zunächst unter Verschluss bleiben. Möglicherweise sollte es mit weiteren Interviews als Quellenbasis einer zukünftig zu schreibenden Stadtchronik dienen. Eine Analyse der Interviews hat allerdings ergeben, dass Gericke anhand der Interviews versuchte, ein spezifisches Geschichtsbild zu konstruieren und seiner rechtsgerichteten Weltanschauung mit Hilfe der selbst produzierten Quellen Legitimation zu verschaffen. In den insgesamt 67 Gesprächen, die Gericke ab 1966 führte, werden zahlreiche Abschnitte der NS-Geschichte der „Stadt des KdF-Wagens“ beleuchtet – dies jedoch durchweg aus einer nicht anders als rechts zu verortenden Perspektive. Im Interview mit Berta Nientit versuchte Gericke einen vermeintlichen Mythos zu wiederlegen: den der „Stadt des KdF-Wagens“ als NS-Musterstadt, in die allein überzeugte Nationalsozialisten gezogen seien. Denn Gericke hielt diese Deutung offenbar für eine nachträglich konstruierte Zuschreibung seitens der alliierten Siegermächte. In seiner eigenen Vorstellung war die „Stadt des KdF-Wagens“ alles andere als eine Musterstadt. Für diese Lesart suchte Gericke nach Belegen – die damalige Bevölkerungszusammensetzung sollte ein solcher sein. Die dafür notwendigen Beweise, so hoffte Gericke, sollte ihm Berta Nienit im Gespräch zuspielen.
Sprechen der damalige Stadtarchivar und seine Interviewpartnerin zwar auch über ihre Erfahrungen innerhalb der Verwaltung der „Stadt des KdF-Wagens“ sowie der frühen Nachkriegszeit, so bildet den Abschluss des Gespräches doch ein anderes Thema
Denn als Nientit erzählt, sie habe im Polizeiamt die Strafkartei geführt, wurde Gericke hellhörig; das Interview nimmt im weiteren Verlauf die Form eines Verhörs an: „Gut, daß Sie darauf kommen. Häufig sagt man doch – mehr oder weniger scherzhaft – das durchschnittliche Maß an Vorstrafen war bei der Bevölkerung der KdF-Stadt eindeutig höher als anderswo. Können Sie das bestätigen?“ Nientit konnte: „45%“ seien bei ihrer Ankunft vorbestraft gewesen. Die Aussage spielte dem Archivar insofern in die Karten, als er ganz offenbar darum bestrebt war, nachzuweisen, wie wenig die tatsächliche Bevölkerung mit der vermeintlich mustergültigen Stadtplanung korrespondierte. „Würden Sie nun sagen“, insistierte Gericke, „daß man vielleicht auch politische Gegner des damaligen Systems nach hier abgeschoben hat aus anderen Teilen des Reichs?“ Hierauf musste die vermeintliche ‚Zeugin‘ Nientit verneinen, sollten doch „gerade die Garanten des Systems kommen“. Übereinkommend hielten Gericke und seine Interviewpartnerin dennoch fest, die Neuankömmlinge seien überdurchschnittlich „kriminell“ vorbelastet gewesen. Damit zeigte sich dann auch Gericke zufrieden, sah er doch als Folge seiner Befragung bestätigt, „was man so vielfach an Gerücht hört“. Damit zeigt sich auch in diesem Interview ein wiederkehrendes Merkmal seiner Interviewführung, nutzte er seine Gespräche doch immer wieder, um über seine eigenen Erfahrungen und Thesen mittels der Interviews zu bestätigen:
„Man kann also nicht sagen, daß die damalige Bevölkerung im ganzen [sic!] und im Durchschnitt eine positive Auslese gewesen ist. Aber das muß ergänzend gesagt werden: Die Beamten, die hierher kamen, und auch die Angestellten der neuen Verwaltung, die stellten zweifellos eine positive Auslese dar. Ich selbst habe in der Zeit, in der ich Ratsherr war, 1949, an der damals gesetzlich geforderten allgemeinen Überprüfung des Personals der Stadtverwaltung mitgewirkt, und wir haben, angefangen von der obersten Spitze, nicht einen einzigen Beamten gefunden, der nicht seine ordnungsgemäße Ausbildung und seine Laufbahnüberprüfung gehabt hätte. Niemand hat damals hier seine Stellung oder seine Beamteneigenschaft aufgrund einer politischen Verbindung mit der NSDAP, etwa als sog. ‚alter Kämpfer‘ bekommen.“
Laut Gericke waren es demnach einerseits Menschen, die gegen das Gesetz verstoßen hatten, sowie politisch unbelastete Beamte andererseits, die den Kern der damaligen städtischen Bevölkerung bildeten
Dass ihm ein Jahr zuvor Josef Wewer, einstiger Stadtoberinspektor der „Stadt des KdF-Wagens“, im Interview berichtet hatte, es seien nur wenige zur Arbeit bei Volkswagen in die Stadt gekommen, die ein längeres Strafregister vorzuweisen gehabt hatten, störte ihn nicht weiter.
Auch die Historiker Hans Mommsen und Manfred Grieger zeigen in ihrer Studie über die Arbeitskräfte des Volkswagenwerkes im „Dritten Reich“, wie sehr die verantwortlichen Personaler schon bei der Auswahl der Auszubildenden auf einen ideologisch einwandfreien Charakter achtgegeben hätten. Dass zu den sogenannten „Pionieren“ der Stadtgründungsjahre vielfach auch langjährige wie linientreue Nationalsozialisten zählten, die innerhalb der Partei und des Regimes Karriere gemacht hatten, hätte ihm über seine Zeitzeugengespräche eigentlich bekannt sein müssen, führte er doch solche unter anderem mit Werner Steinecke (Mitglied der NSDAP seit 1926, zweiter Bürgermeister der „Stadt des KdF-Wagens“) oder Robert Bartels (SS-Obersturmführer, Betriebsinspektor der Reichswerke „Hermann-Göring“). So zeigt sich, wie sehr Gericke darum bemüht war, Geschichte zu konstruieren – und eben nicht zu rekonstruieren.
Text: Maik Ullmann, Ansprechpartner: Dr. Alexander Kraus, Projekt: Wolfsburg auf dem Weg zur Demokratie, alle Rechte beim Institut für Zeitgeschichte und Stadtpräsentation (IZS)
Bildernachweise: oh/StadtA WOB, EB 4, Interview mit Berta Nientit vom 3. Dezember 1969