
Der erste ICE, der in Wolfsburg Halt machte.
Von Anbeginn der Inbetriebnahme der Lehrter Bahn um die Zeit der Reichsgründung im 19. Jahrhundert war die Schienenverbindung zwischen Hannover und Berlin eine wichtige Magistrale im Ost-West-Eisenbahnverkehr.
Schon Mitte der 1930er Jahre erreichte der sogenannte „Fliegende Kölner“, ein dieselgetriebener Fernschnelltriebwagenzug, eine Spitzengeschwindigkeit von 160 km/h und legte die Strecke zwischen beiden Fernzugbahnhöfen ohne Zwischenaufenthalt bereits in einer Stunde und 37 Minuten zurück. Am Bahnhaltepunkt Wolfsburg-Rothenfelde der später gegründeten „Stadt des KdF-Wagens bei Fallersleben“ rauschte dieser Zug ohne Halt vorbei. Infolge der deutschen Teilung nach Ende des Zweiten Weltkrieges wurde die Bahnstrecke Hannover-Berlin seit den 1950er Jahren im Interzonenverkehr betrieben.
Aufgrund der sich abzeichnenden Entspannungspolitik, die sich 1975 in den Verträgen von Helsinki manifestierte, erhielt die Verbesserung des Zugangs nach West-Berlin einen gewichtigen Stellenwert. Die Bundesregierung war bereit, zu diesem Zweck auch Infrastrukturprojekte auf dem Boden der DDR zu fördern. Täglich verkehrten zehn Transit-D-Zugpaare auf der Verbindung Berlin-Bahnhof Zoo und dem Hauptbahnhof Hannover. Die Reisezeit von bis zu vier Stunden erschien vielen Reisenden unattraktiv; schlecht ausgebaute Strecken und unkomfortable Zugwagen sorgten bis in die 1980er Jahre hinein für stetige Fahrgastrückgänge. In der Bundesrepublik wurden daher Planungen aufgenommen, für die Bahnverbindung eine moderne Neubaustrecke als Korridor durch die DDR anzulegen.
Beratungen des Deutschen Bundestages befassten sich in den 1980er Jahren mit dem Ausbau der Schienenwege nach Berlin. Von den fünf vorhandenen Transitstrecken nach Berlin geriet die Verbindung von Hannover nach Berlin in den Fokus der Politik, denn rund die Hälfte des Schienen-Transitverkehrs wurde über diese Relation abgewickelt. Schon 1984 wurde über den Bau eines separaten Korridors zwischen Hannover und Berlin entlang der Lehrter Bahn diskutiert.
Angedacht war die Verkürzung der Reisezeit auf 100 Minuten einschließlich dreier Zwischenhalte und dem Grenzaufenthalt. Vorschläge zum Bau einer Transrapid-Strecke zwischen Berlin und Hannover zerschlugen sich, war doch die DDR-Regierung nicht gewillt, durch dieses sichtbare High-Tech-Verkehrsmittel den eigenen technologischen Rückstand zu offenbaren. In Konsequenz wurde ab 1985 über eine konventionelle Rad-Schiene-Neubaustrecke diskutiert. Ihre Linienführung wurde etwa zwei Jahre auf den Prüfstand gestellt, wobei die DDR-Regierung zunächst darauf bestand, die Bahnstrecke in Eigenregie zu erstellen, die Bundesrepublik jedoch die anfallenden Kosten allein tragen zu lassen.
In einem Gutachten der DE-Consult im Auftrage des Landes Berlin vom September 1986 wurde eine Nordtrasse über Wolfsburg und Stendal auf der alten Lehrter Bahnstrecke mit einer Südtrasse über Magdeburg und Potsdam auf der Berlin-Potsdam-Magdeburger Bahn verglichen. Ein späteres Gutachten, das vom Bundesverkehrsministerium in Auftrag gegeben wurde, betrachtete nur noch die Neubaustrecke zwischen Berlin-Charlottenburg über Stendal und Wolfsburg nach Hannover. Die Nordvariante über Stendal kam dem Begehren der DDR-Regierung entgegen, die Neubaustrecke als reine Transitverbindung durch dünn besiedeltes Gebiet zu führen. Die Streckenführung löste auch in der Bundesrepublik Diskussionen aus, forderte doch beispielsweise die Stadt Braunschweig eine Anbindung an die Schnellfahrstrecke über eine Schleife zwischen Hannover und Wolfsburg. Für die Nordvariante sprach auch die schnellere Realisierbarkeit.
Ein erstes Sondierungsgespräch über den Ausbau der Lehrter Bahn für den Hochgeschwindigkeitsverkehr mit Geschwindigkeiten von 200 km/h führten am 16. September 1988 Hans-Otto Bräutigam, Leiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in der DDR, und der stellvertretende Verkehrsminister der DDR, Heinz Gerber. Nur wenig später verabschiedete der Rat der Stadt Wolfsburg in seiner Sitzung Anfang Dezember 1988 eine Resolution, in der er eine Anbindung Wolfsburgs an das IC-Linien-Netz der Bahn forderte.
Ende Januar 1989 verhandelten im Bundesverkehrsministerium in Bonn für die Stadt Wolfsburg Oberbürgermeister Werner Schlimme und Oberstadtdirektor Prof. Peter Lamberg sowie für den Volkswagen-Konzern Vorstandsmitglied Dr. Peter Frerk mit Spitzenbeamten des Ministeriums über die Linienführung der Bahnstrecke nach Berlin. Insbesondere verwiesen sie auf die wirtschaftliche Bedeutung der Schnellbahnanbindung für die Stadt und das Volkswagenwerk. Mit dem Fall der Berliner Mauer im November 1989 und der Deutschen Wiedervereinigung wurden die Planungen für die Neubaustrecke wesentlich beschleunigt. Die Entscheidung für die Nordvariante über Wolfsburg wurde zum einen wegen der niedrigeren Siedlungsdichte, zum anderen aufgrund der geringeren Zahl zu durchfahrender Naturschutzgebiete beeinflusst.
Im Bundeshaushalt 1990 wurden bereits Mittel für die Planung der Schnellbahn Hannover-Berlin eingestellt. 1991 wurde das Vorhaben als Verkehrsprojekt Deutsche Einheit Nr. 4 in den Katalog der 17 Verkehrsprojekte Deutsche Einheit aufgenommen. Neben dem Neu- und Ausbau zur Schnellfahrstrecke war auch die Rekonstruktion der Lehrter Bahn Bestandteil der konkreten Planungsarbeiten. Neben dem neuen Fernbahnhof Berlin-Spandau war auch die Weddeler Schleife zwischen Wolfsburg und Braunschweig in das Projekt einbezogen. Einstimmig verabschiedete der Rat der Stadt Wolfsburg am 24. März 1992 eine Stellungnahme im Zuge des Planfeststellungsverfahrens, wonach der Bahnhof Wolfsburg als ICE-Systemhaltestelle ausgewiesen werden sollte. Zunächst wurde von einem Baubeginn 1992 ausgegangen und die Baufertigstellung wurde für Mitte 1997 geplant.
Die Raumordnungsverfahren in den verschiedenen Streckenabschnitten zogen sich von 1990 bis zum Februar 1998 hin, galt es doch die Länder Sachsen-Anhalt und Brandenburg sowie Berlin zu beteiligen. Der ursprünglich angedachte Einweihungstermin war deshalb nicht zu halten. So mussten in Brandenburg in einem Abschnitt zum Schutz der dort lebenden Großtrappen spezielle Schutzmaßnahmen ergriffen werden. Bereits 1995 wurde in Fallersleben ein elektronisches Stellwerk in Betrieb genommen, das den gesamten Streckenabschnitt zwischen Lehrte und Stendal (rund 150 Streckenkilometer) überwachte. Etwas betrüblich insbesondere für die Bewohner Fallerslebens war der unumgängliche Abriss des alten Bahnhofsgebäudes, weil es der Ausbaustreckenführung im Wege stand. Am 4. August 1995 gab es eine Art „Abschiedsparty“ für das historische Gebäude an der rund 200 Fallersleber teilnahmen. Ortsbürgermeisterin Bärbel Weist erklärte: „Mit dem Abbruch des Gebäudes geht für Fallersleben und die Bahn ein Stück Geschichte zu Ende. Doch zugleich beginnt ein neues Kapitel, es ist ein Signal für die Zukunft.“
Am 24. Mai 1998 wurde die Neubaustrecke schließlich im Abschnitt Wolfsburg-Oebisfelde-Stendal eröffnet. Die feierliche Inbetriebnahme der Neubaustrecke auf ganzer Länge erfolgte am 15. September 1998. Im Eröffnungs-ICE, der im Ostbahnhof Berlin auf den Namen „Claus Graf Stauffenberg“ getauft wurde, fuhren Bundeskanzler Helmut Kohl, Bahnchef Johannes Ludewig und Berlins Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen mit. Kurze Zwischenhalte auf dem Weg nach Hannover wurden in Stendal und Wolfsburg eingelegt. Auf dem Wolfsburger Bahnsteig hatte sich lokale Prominenz eingefunden.
Neben Oberbürgermeisterin Ingrid Eckel und Oberstadtdirektor Rolf Schnellecke war auch der VW-Konzernchef Ferdinand Piëch anwesend. Als Bundeskanzler Helmut Kohl ausstieg, wurde ihm von der Oberbürgermeisterin ein kleiner bronzener Wolf überreicht. Angesichts des kurzen Aufenthaltes blieb nur wenig Zeit für freundliche Worte und Händeschütteln. Der reguläre Streckenbetrieb wurde dann am 27. September 1998 aufgenommen. Aus diesem Anlass wurde in der Volkswagenstadt ein großes Bahnhofsfest gefeiert, an dem rund 10.000 Besucher teilnahmen.
Als Archivalie des Monats dienen zwei Fotografien des Bahnhoffestes vom 26. September 1998, das aus Anlass des ersten ICEs veranstaltet wurde, der in Wolfsburg Halt machte. Die Deutsche Bahn bot zwischen Wolfsburg und Stendal je zwei ICE-Probefahrten in beide Richtungen an. Den Anbruch des ICE-Zeitalters und die Mitfahrgelegenheit nutzten nicht nur etliche Ratsmitglieder sondern auch viele Gäste aus Wirtschaft und Verwaltung sowie zahlreiche Eisenbahnfans aus Wolfsburg und Umgebung.
Text: Werner Strauß, Alle Rechte beim Institut für Zeitgeschichte und Stadtpräsentation (IZS)
Text: Werner Strauß, Alle Rechte beim Institut für Zeitgeschichte und Stadtpräsentation (IZS)
Foto: oh/Joachim Thies/Fotosammlung IZS